«Bionic Reading»: Die Schweizer Lesetechnik setzt auf hervorgehobene Wortteile. (Bild: cbu)
«Bionic Reading»: Die Schweizer Lesetechnik setzt auf hervorgehobene Wortteile. (Bild: cbu)
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Bionic Reading: Wie eine Schweizer Methode das Lesen verändern will

Chris Bucher
Chris Bucher

Mein Stapel ungelesener Bücher (kurz: SuB) ist ein Fall für den Psychiater. Derzeit stehen bei mir 114 physische Bücher im Bücherregal. Dazu kommen an die 110 eBooks auf meinen beiden eReadern. Ist das vernünftig? Nein. Belastet mich das? Auch nein (ausser vielleicht mein Konto, aber das muss mit ganz anderen fragwürdigen Entscheidungen klarkommen.)

Da ich Bücher wie ein Schwamm in mich aufsauge – mein Schnitt liegt bei 75 gelesenen Büchern pro Jahr –, habe ich mich selbstverständlich auch mit Techniken beschäftigt, die das Lesetempo erhöhen sollen. Speed-Reading heisst das Zauberwort und da gibt es allerhand verschiedene Methoden.

Was ist Speed Reading überhaupt?

Die Versprechen der zahlreichen Anbieter reichen von «doppelt so schnell lesen» bis zu «ganze Romane in einer Stunde verschlingen». Methoden wie das sogenannte Skimming (Text überfliegen), Meta-Guiding (mit dem Finger führen) oder das Training per Eye-Tracking-Apps zielen darauf ab, die Augenbewegungen zu optimieren und Regressionen – also das Zurückspringen im Text – zu minimieren. Die durchschnittliche Lesegeschwindigkeit liegt gemäss «SRF» bei etwa 160–200 Wörtern pro Minute.

Das mit dem richtigen Training das Lesetempo zumindest erhöht werden kann, ist wissenschaftlich erwiesen. Wie eine Studie des Amerikaners Keith Rayner von 2016 belegt, sind Tempo-Steigerungen möglich, allerdings mit Einschränkungen. Wer seine Lesegeschwindigkeit um das Doppelte oder Dreifache erhöht, tut dies gemäss Studie auf Kosten des Textverständnisses.

Dennoch: Für bestimmte Zwecke – etwa beim Informationsscannen oder bei lesemüden Augen – kann Speed-Reading durchaus hilfreich sein. Ein Unternehmen, das derzeit den Schnelllese-Markt beeinflusst, stammt aus der Schweiz.

Und was hat die Schweiz damit zu tun?

Mitten im beschaulichen Chur, umgeben von Bergen und nicht gerade als Silicon Valley bekannt, sitzt ein Mann, der dem Thema Speed Reading eine eigene Note verliehen hat: Renato Casutt, Typografischer Gestalter, hat 2016 eine eigene Technik entwickelt, individualisiert und in verschiedenen Formaten auf den Markt gebracht.

Renato Casutt hat «Bionic Reading» in Chur entwickelt (Bild: zvg / Bionic Reading)

Sein Konzept nennt sich Bionic Reading und ist eine Lesemethode, bei der bestimmte Buchstaben im Wort hervorgehoben werden (meistens die ersten Silben), damit das Gehirn den Rest automatisch ergänzt. «Das Auge übermittelt dem Gehirn, dass es sich nur auf einzelne Bereiche des Wortes fokussieren soll – sozusagen eine Reduktion auf das Nötigste, was den Leseprozess beschleunigt», erklärt Casutt in einer Medienmitteilung. Das Resultat: Man liest nicht mehr jedes Wort komplett, sondern surft über die Texte wie auf Lesewellen. So die Theorie.

Die Schweizer Methode hat gemäss Casutt viele Fans gewonnen – auch international. Unternehmen wie der Verlag Harper Collins (für eine gedruckte Bibel), der Feedreader «Reeder» und das malaysische Nachrichtenportal «Lumi News» setzen auf Bionic Reading.

Hilft das wirklich?

Die Idee wirkt relativ simpel, funktioniert aber laut verschiedenen Rückmeldungen für viele gut – jedoch nicht für alle. Menschen mit ADHS, Legasthenie oder Langsam-Leser berichten in verschiedenen Foren und Plattformen wie Reddit und TikTok von besserem Textverständnis, mehr Fokus und weniger Ermüdung. Andere empfanden das Lesen mit hervorgehobenen Wortteilen als ablenkend – oder konnten schlicht keine spürbare Verbesserung messen.

«Bionic Reading» ermöglicht verschiedene Einstellungen des Schriftbilds. (Bild: zvg / Bionic Reading)

Für wen lohnt sich’s – und für wen eher nicht?

Speed-Reading-Techniken können vor allem dort punkten, wo es ums schnelle Erfassen von Informationen geht. Oder eben auch bei Leuten mit Leseschwächen. Wer hingegen literarische Sprache geniessen will, sich gerne in kunstvolle Satzkonstruktionen vertieft oder beim Lesen bewusst entschleunigen möchte, wird vermutlich weniger Anreize für «Speed Reading»-Techniken haben.

Wie so oft gilt also: Probieren geht über Studieren. Oder in diesem Fall: Überfliegen.