Als Apple 2007 das iPhone vorgestellt hat, haben die Kalifornier damit die Technikwelt ordentlich durchgerüttelt. 15 Jahre und etliche iPhones später sucht die Branche, die Apple praktisch im Alleingang aus der Taufe gehoben hat, verzweifelt nach Innovation.
Erscheint ein neues Smartphone, kann dieses kaum mehr mit ausgefeilten Features verblüffen. Ein etwas schnellerer Prozessor da, ein brillanteres Display dort, ist schon längst zum langweiligen Smartphone-Alltag geworden. Ja, die Geräte werden immer besser, doch für die Hersteller wird trotzdem schwieriger den Kauf des neuen Flaggschiffs zu rechtfertigen.
Teurer, aber nicht besser
Dass die Leute ihre Smartphones nicht mehr standardmässig alle zwei Jahre wechseln, merkt die Branche. Die Löcher, die das in die Einnahmen reisst, versuchen die Hersteller mit immer höheren Flaggschiffpreisen zu kompensieren. Ein neues Topmodell für 1400 Franken gehört heutzutage schon fast zum guten Ton jedes grossen Smartphone-Herstellers. Selbst OnePlus, einst Vorreiter von günstigen Flaggschiffen, mischt inzwischen im Preissegment von 1000+ Franken mit.
So mancher Fan der ersten Stunde trauert der guten alten Zeit nach, als OnePlus noch das junge, wilde Start-up war. Inzwischen hat der Mutterkonzern BBK Electronics die Marke mit Oppo verschmolzen und die neuen OnePlus-Smartphones zeigen, dass die Marke nur noch auf dem Papier eigenständig ist.
Endlich ein perfektes Ökosystem für Android?
Als schliesslich ausgerechnet OnePlus Co-Founder Carl Pei ein neues Start-up angekündigt hat, war die Aufmerksam gross. Nothing sollte den Sex-Appeal zurück in die Techindustrie bringen und etwas schaffen, was sonst nur Apple kann: Ein perfektes Ökosystem, das einfach funktioniert.
Das erste Produkt des neuen Start-ups waren kabellose In-Ear-Kopfhörer. Diese haben zwar mit einem aussergewöhnlichen Design auf sich aufmerksam gemacht, doch der grosse Wow-Effekt blieb aus. Dies soll nun das erste Smartphone des Unternehmens ändern: das Nothing Phone (1).
Seit März heizt das Unternehmen den Hype um das neue Smartphone kontinuierlich an und beweist damit vor allem eines: Genau wie damals beim ersten OnePlus-Handy versteht es Carl Pei, die Techwelt zu fesseln. Am 16. Juni durften wir dann endlich einen ersten Blick auf das Nothing Phone (1) werfen. Im Rahmen der Art Basel zeigte das Start-up sein neues Baby – wenn auch nur von der Rückseite. Die fehlende Vorderseite lieferte dann später Tech-YouTube MKHD noch nach.
Weniger ist mehr
Seither rumort es in der Techblase. Je nachdem, wen man fragt, schauen die Reaktionen auf das Nothing Phone (1) gegenteilig aus. Die einen sind noch immer zuversichtlich, die anderen wurden in ihrer Skepsis bestätigt: Ein Smartphone zu fertigen, das aus der Masse heraussticht, ist eine Herkulesaufgabe geworden. Dieser Tatsache kann sich selbst Pei nicht entziehen.
Dass Nothing davon spricht, die Smartphone-Welt auf den Kopf zu stellen, mag wohl etwas übertrieben sein. Dennoch verfolgt das Start-up ein Ziel, das eigentlich schon längst überfällig ist: Ein kleines, aber feines Portfolio an Geräten mit Android als Grundlage, das perfekt aufeinander abgestimmt ist. Eben das, was Apple mit seinem iOS macht.
Nothing kann machen, was andere Hersteller nicht können: Von Grund auf neu starten und ein auf Android perfekt abgestimmtes Smartphone bauen. Google höchstselbst hat mit seinen Pixel-Handys bewiesen, dass ein Android-Smartphone mit perfekt optimierter Software mehr leisten kann.
Die Software muss endlich perfekt sein
Da macht es dann auch nichts aus, wenn die Hardware nicht High End ist. Und genau das machen nun die einen oder anderen dem Nothing Phone (1) zum Vorwurf: Laut den neusten Leaks soll es sich «nur» um ein Mittelklassegerät handeln. Doch diese Leute haben noch immer nicht verstanden, worauf es ankommt. Ich brauche nicht den neuesten Chip und 12 GB RAM, um den Smartphone-Alltag zu meistern. Ich brauche auch keine Pseudo-Makrolinse mit 2 Megapixeln oder 200-fachen Zoom.
Was ich aber brauche, ist eine Software, die perfekt auf die Hardware abgestimmt. Damit mein Akku möglichst lange durchhält, meine Fotos schön werden, die Bedienung flüssig ist. Eben alles das, was bei Apple schon lange zum Alltag gehört. iPhones waren noch nie Hardware-Monster und konnten bisher trotzdem immer mit der Konkurrenz mithalten. Dass Android-Hersteller erst jetzt langsam zu verstehen beginnen, wie wichtig dieser Aspekt ist, ist schon sehr fragwürdig.
HMD Global als mahnendes Beispiel wie es nicht geht
2016 wäre beispielsweise HMD Global in einer perfekten Ausgangssituation gewesen: Das Start-up konnte ganz von vorn beginnen und musste nicht noch alte Geräte in seinem neuen Ökosystem berücksichtigen. Beim Betriebssystem setzte man auf pures Android und lange Software-Updates. Doch statt sich auf wenige Modelle zu konzentrieren und diese jährlich zu verbessern, schwemmte Nokia den Markt mit gefühlt unzähligen Modellen. Hinzu kam noch eine Modellbezeichnung, die bei vielen für Verwirrung sorgte (und HMD Global 2021 zu korrigieren versuchte).
Im selben Jahr startete Google seinen Versuch eines puren, perfekt abgestimmten Android-Smartphones. Hat es geklappt? Auf technischer ebene sicher. Aber Google hat es nie geschafft, den Lifestyle-Aspekt eines iPhones auch nur annähernd einzufangen. Stattdessen ist das Pixel höchstens bei Techblogs ein Thema, aber in der breiten Masse praktisch unbekannt.
Zugegeben: Ein neues Smartphone auf den Markt zu bringen, dass einen Must-Have-Status wie das iPhone erreichen kann, dürfte beinahe unmöglich sein. Selbst ein Riese wie Samsung hat das bis heute nicht wirklich geschafft, auch wenn die Falt-Handys durchaus ihre Fans haben. Trotzdem könnte Nothing zumindest in kleinem Rahmen eine gewisse eingefleischte Community generieren, ähnlich wie dazumal mit OnePlus.
Wer kauft sich das Nothing Phone (1)?
Fraglich ist, ob Nothing es schafft, die breite Masse mit seinem Design anzusprechen. Auffallen tut man mit dem Nothing Phone (1) definitiv, keine Frage. Allerdings scheidet das Aussehen des Smartphones bereits jetzt die Geister. Wen genau Pei mit dem Nothing Phone (1) im Sinn hat, ist schwierig. Die Vorabpräsentation an der Art Basel hat zumindest durchblicken lassen, wohin die Reise gehen könnte. Und vielleicht ist der Ansatz gar nicht mal so schlecht: Wer mit Kunst verbandelt ist, dürfte sich vom Nothing Phone (1) eher angesprochen fühlen.
Nein, ich erwarte kein Wunder, wenn Pei am 12. Juli die letzten Details preisgibt. Worauf ich mich aber freue, ist ein durchdachtes Android-Smartphone, bei der Software und Hardware Hand in Hand arbeiten und so ein potenziell langlebiges Smartphone versprechen.