Frontansicht des Kia EV9 GT-Line
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Fahrbericht Kia Elektroauto

Kia EV9 GT-Line im Test: Ein einzigartiges Elektroauto

Bruno Rivas
Bruno Rivas

Inhaltsverzeichnis

«The bigger, the better», also «je grosser, desto besser», das passt beim Kia EV9 wie die Faust aufs Auge. Ja, der vollelektrische SUV von Kia ist mit einer Länge von über fünf Metern und einer Breite von fast zwei Metern definitiv ein Koloss und man fällt nicht zuletzt auch wegen des kantigen Erscheinungsbilds unweigerlich auf. Obwohl das neue Flaggschiff von Kia weit über 2,5 Tonnen auf die Waage bringt, fährt er sich alles andere als schwerfällig. Davon konnte ich mich während zwei Wochen gleich selbst überzeugen. 

Was der gigantische Kia EV9 sonst noch alles zu bieten hat und für wen er sich im Endeffekt eignet, erfährst du in unserem ausführlichen Testbericht.

Heckansicht des Kia EV9 GT-Line
Bild: vybe

Das Testfahrzeug: Kia EV9 GT-Line (Allrad)

  • Leistung: 283 kW (385 PS), 700 Nm
  • Beschleunigung 0 auf 100 km/h: 5,3 Sekunden
  • Höchstgeschwindigkeit: 200 km/h
  • Reichweite nach WLTP: 505 km
  • Verbrauch nach WLTP: 22,8 kWh/100 km
  • Ladeleistung DC: 210 kW
  • Ladeleistung AC: 11 kW
  • Batteriegrösse: 99,8 kWh (Netto)
  • Preis: ab 85'000 Franken

Ein Koloss auf vier Rädern

Wer auf der Suche nach einem kompakten Elektroauto ist, der ist beim Kia EV9 definitiv an der falschen Adresse. Mit seiner schieren Fahrzeug-Grösse von knapp über fünf Metern, fast zwei Meter Breite und einer Höhe von 1,80 Metern, gehört der EV9 zu einer eher seltenen Gattung.

Lang ist er, der Kia EV9 GT-Line | Bild: vybe

Der Elektro-SUV von Kia fällt aber nicht nur mit seiner Grösse auf, auch das Aussehen ist sonderbar. Mein Redaktionskollegen Pascal Scherrer hat es meiner Meinung nach mit seiner kurzen und knackigen Einschätzung zum Aussehen mit "nicht unbedingt hässlich, aber speziell" ziemlich genau auf den Punkt gebracht.

Ja, das Design kann als ziemlich einzigartig beschrieben werden. Es ist eckig und markant, aber trotzdem irgendwie interessant. Sowohl die bullige Front- als auch die Heckpartie mit den futuristisch gestaltenden Leuchtelementen sind einzigartig. Hinzu kommen die digitalen Seitenspiegel, die sich aus je einer Kamera (draussen) und je einem Display (Cockpit) zusammensetzen. Dank der digitalen Seitenspiegel wird der tote Winkel erheblich reduziert.

Keine klassischen Spiegel mehr, optional bekommst du digitale Aussenspiegel | Bild: vybe

Trotz kantigem Design erreicht der Kia EV9 einen überraschend guten cW-Wert von 0,28. Das spricht für eine ziemlich gute Aerodynamik. Mitunter ein Grund dafür, sind die zusätzlichen Optimierungen am Fahrzeug. So tragen etwa die aktiven Luftklappen und die Air Curtains im Frontstossfänger dazu bei, dass der Luftwiderstand gesenkt wird und so eine bessere Aerodynamik gewährleistet ist.

Innenraum und Cockpit

Eine fahrende Wohlfühloase, das beschreibt den Innenraum im Kia EV9 wohl am besten. Dazu tragen bei der GT-Line unter anderem die sehr bequemen Entspannungssitze vorn inklusive Beinauflage bei. Der Fahrersitz ist sogar mit einer erstaunlich guten Massagefunktion ausgestattet. Hinzu kommen für die beiden ersten Reihen eine Sitzheizung und Sitzventilation dazu.

Mehr als genügend Platz vorhanden: bis zu sechs Personen finden bequeme Sitze vor | Bild: vybe

Die beiden Vordersitze lassen sich elektrisch verstellen. Cool: Wird der Sportmodus aktiviert, verwandelt sich der Sitz des Fahrers in ein Sportsitz und sorgt so für mehr Halt bei rasanter Fahrweise. Möchtest du beim Laden etwas relaxen, kannst du einfach eine Taste auf der Seite des Fahrersitzes drücken und schon kannst du ein kleines Nickerchen im Fahrzeug machen.

Im Innenraum wählt Kia einen ziemlich minimalistischen Ansatz. Es gibt zwar eine Ambientebeleuchtung, die eine Vielzahl an Farben wiedergeben kann, ansonsten gibt es aber kaum nennenswerte optische Reize. Mir gefällt der von Kia gewählte Ansatz gut. Alles in allem wirkt alles auch wertig. Hinsichtlich Nachhaltigkeit lässt sich festhalten, dass beispielsweise der Sitzbezug aus Werkstoffen recycelter PET-Flaschen und Fischernetze besteht. Bio-Lacke wurden aus Rapsöl und Bio-Kunststoff aus Maisextrakt gewonnen.

Auch in der zweiten und dritten Reihe wird viel Komfort geboten

Auf eine Sitzheizung und Sitzventilation müssen in der GT-Line mit entsprechender Ausstattung auch die Mitfahrer:innen in der zweiten Reihe nicht verzichten. Dort dürfen sie sich je nach Ausstattung auf Entspannungssitze oder schwenkbare Sitze (um 90 Grad zur geöffneten Tür hin oder um 180 Grad in Richtung dritter Reihe drehbar) freuen. Eine aus der Mittelkonsole ausziehbare Ablage dient für die Mitfahrer:innen der zweiten Reihe als kleines Tischchen. Lademöglichkeiten gibt es dank USB-C-Anschlüssen an jedem Platz im Auto.

Ja, selbst in der dritten Reihe, wo links bzw. rechts neben dem Sitzplatz eine Ablagefläche für Getränke installiert ist, gibt es einen USB-C-Anschluss. Wer jetzt damit gerechnet hat, dass die Sitze in der hintersten Reihe weniger bequem als die ersten zwei Reihen sind, kann ich beruhigen: Nein, auch die Sitze in der dritten Reihe sind absolut für Langstrecken geeignet und sehr bequem. Dank des grosszügigen Platzangebots, sind auch diese Plätze problemlos erreichbar.

Es gibt beim Kia EV9 ein bzw. gar zwei Panoramadächer, die etwa ein Blick auf den Sternenhimmel ermöglichen. Ein kleines Panoramadach ist auf Höhe des Fahrers und Beifahrers angebracht. Das grosse Panoramadach befindet sich auf Höhe der zweiten Reihe und geht dann bis fast zur dritten Reihe hin. So kommt auch viel Licht in das Fahrzeug.

Hightech-Pur für den Fahrer

Ja, im Cockpit erwartet den Fahrer viel Hightech. Ins Auge fallen sofort die zwei optional erhältlichen Displays links und rechts an der Seitentüre. Es sind die Displays für den digitalen Seitenspiegel. Ob sie einen Mehrwert darstellen? Nun, da bin ich ehrlich gesagt während meiner Testzeit zu keinem abschliessenden Fazit gekommen. Die ersten paar Kilometer war es jedoch eine ziemlich krasse Umstellung für mich. Danach gewöhnt man sich nach und nach dran.

Apropos digital: Auch der Rückspiegel ist digital. Allerdings kann dieser auf Wunsch deaktiviert werden, so dass man dann doch einen "klassischen" Rückspiegel hat. Sinnvoll ist der digitale Rückspiegel insbesondere dann, wenn das Gepäck im Kofferraum bis zum Dach aufgetürmt ist und man über einen klassischen Rückspiegel kein Blick nach hinten hat.

Ja, Apple CarPlay funktioniert ganz ohne Kabelsalat | Bild: vybe

Endlich: Android Auto und Apple CarPlay kabellos nutzbar

Im Cockpit erwartet den Fahrer zwei durchgängige 12,3-Zoll-Displays und einem weiteren kleinen 5,3-Zoll-Touchscreen für die Klimatisierung im Fahrzeug. Die meisten Funktionen werden direkt über diese Displays gesteuert. Dennoch gibt es unterhalb des mittleren Displays noch drucksensitive Tasten, die nicht ganz so ins Gesamtbild passen. Ansonsten gibt es physische Tasten an der Seitentüre, etwa zur Steuerung der Sitzheizung, Sitzventilation oder Massagefunktion.

Schön anzusehen ist die Ambiente Beleuchtung, die im ganzen Fahrzeug vorhanden ist | Bild: vybe

Erfreulich: Das Infotainmentsystem von Kia läuft grösstenteils flüssig und ist leicht verständlich. Alle wichtigen Funktionen sind schnell mittels weniger Klicks erreichbar. Android Auto und Apple CarPlay lassen sich jetzt auch ganz ohne Kabel mit dem Infotainment verbinden. Das war bei meinem Test des Kia EV6 im letzten Jahr noch nicht der Fall.

Platzangebot und Kofferraum

Ich habe es bereits weiter oben erwähnt, dass Kia beim EV9 (wie auch beim Kia EV6) einen minimalistischen Ansatz im Innenraum verfolgt. Auf das Platzangebot hat dieser Entscheid keine Auswirkung. Das Platzangebot ist für alle Fahrgäste hervorragend. Egal, ob in der zweiten oder dritten Reihe, grosse Menschen haben überall genügend Beinfreiheit. Ebenfalls ist die Kopffreiheit gegeben. Selbst die Plätze in der dritten Reihe sind noch problemlos erreichbar.

Werden alle sechs Plätze benötigt, dann steht ein Koferraumvolumen von 333 Litern zur Verfügung. Das ist nicht so viel, reicht aber etwa aus, um zwei grosse Koffer (stehend) darin zu platzieren. Auf Knopfdruck lässt sich die dritte Reihe elektronisch umklappen, womit sich ein neues Kofferraumvolumen von 828 Litern ergibt. Werden die Lehnen der zweiten Reihe umgeklappt, steht ein ebener Boden mit einem Volumen von bis zu 2393 Litern zur Verfügung. Hinzu kommt noch ein 52 Liter Frunk vorn dazu.

Mit einer Anhängelast von bis zu 2500 Kilogramm übertrumpft der Kia EV9 locker den VW ID. Buzz. Praktisch ist die serienmässige Vehicle-to-Load-Funktion (V2L). Damit kannst du etwa über die Steckdose im Kofferraum (220 Volt) ein anderes Elektrogerät aufladen. Ebenfalls gibt es einen Adapter, womit du den Ladeanschluss zu einer Steckdose umwandeln kannst.

So sieht Fahrspass aus, oder? | Bild: vybe

Fahrspass

Trotz einem recht hohen Gewicht lässt sich der Kia EV9 erfreulich agil fahren. Das "Schiff" gleitet regelrecht über die Strassen und Schlaglöcher werden durch das Fahrwerk gekonnt glattgebügelt. Nur in engen Passagen merkt man dann halt doch, dass wir hier ein ziemlich schweres und vor allem langes Fahrzeug fahren. Die Lenkung reagiert erfreulich direkt und präzis. Der Wendekreis sollte indes nicht unterschätzt werden.

Mit aktiviertem Sportmodus beschleunigt der 283 kW (385 PS) starke Kia EV9 in beachtlichen 5,3 Sekunden von 0 auf 100 km/h. Es ist immer wieder spannend, wie der Kia EV9 von anderen Automobilsten unterschätzt wird. Auf der Autobahn ist es in den letzten Wochen immer wieder mal vorgekommen, dass ein Automobilist meinte, er könne mit der Beschleunigung des EV9 mithalten.

Alles da, wo es sein soll | Bild: vybe

Gut gefallen hat mir der Rekuperationsmodus. Es lassen sich drei Rekuperations-Level direkt über die Lenkradpadels einstellen. Das geht schnell und einfach. One-Pedal-Drive ist so problemlos möglich, wie aber wenn gewünscht auch das Segeln. Auf Wunsch lässt sich auch die intelligente Rekuperation dazu schalten. Dabei regelt das System automatisch die Regenerativbremse je nach Fahrbahngefälle und Fahrverhalten des vorausfahrenden Fahrzeuges. Das System minimiert die unnötige Betätigung des Brems- und Beschleunigungspedals, verbessert den elektrischen Wirkungsgrad und unterstützt den Fahrer aktiv.

Es piepst andauernd..

Jetzt kommen wir zu einem Punkt, der mir schon beim Kia EV6 unheimlich auf die Nerven gegangen ist. Der Kia EV9 ist selbstverständlich mit allen erdenklichen Assistenz- und Sicherheitssystemen ausgestattet. Das ist auch gut so. Nicht gut ist, wenn gefühlt jede Minute irgendetwas im Cockpit anfängt zu piepsen. Ja, tatsächlich gibt es bereits ab 2 km/h zu viel Geschwindigkeit eine Tempowarnung mit nervigem Piepsen. Das lässt sich zwar deaktivieren, allerdings ist sie beim nächsten Start des Fahrzeugs wieder aktiv. Hier sei allerdings angemerkt, dass dies scheinbar so gesetzlich festgeschrieben ist.

Doch nicht nur das Tempolimit sorgt immer wieder mal für ein unnötiges Piepsen. Fährt man etwa über einen Velostreifen (wohlgemerkt, keine langgezogene Linie) fängt es ebenfalls an zu piepsen. Schaue ich gefühlt 2 Sekunden zum Fenster hinaus, piepst schon das Aufmerksamkeitserkennungssystem. Ja, für meinen Geschmack piepst es etwas zu viel im Kia EV9. Beispielsweise beim Cupra Born erlebte ich das nicht so extrem.

An einer Schnellladestation verbringst du nicht so viel Zeit mit dem Kia EV9 | Bild: vybe

Reichweite und Laden

Ich habe den Kia EV9 GT-Line mit Allradantrieb testen dürfen. Nach offiziellen WLTP-Angaben erreicht dieses Modell dank der riesigen 99,8-kWh-Batterie eine Reichweite von bis zu 505 Kilometern. Das Modell mit Hinterradantrieb kommt etwa 50 Kilometer weiter, hat aber unterm Strich etwas weniger Leistung. Auf 100 Kilometer ergibt sich so ein Wert von 22,9 kWh bzw. 20,2 kWh beim Modell mit Hinterradantrieb.

So viel zur Theorie, doch wie sieht es in der Praxis aus? Ist die angegebene Reichweite und der Verbrauch realistisch? Sagen wir es mal so, es kommt immer auf die Fahrweise darauf an und wo, die Kilometer zurückgelegt werden. In der Stadt ist ein Verbrauch von 20 kWh im möglichen Bereich, was für ein Elektroauto dieser Grössenordnung beachtlich ist. Auf der Autobahn bei einer Geschwindigkeit von 125 km/h steigt der Verbrauch dagegen gerne auf 25 oder mehr kWh.

Dank der 800-Volt-Technologie, die auch im Kia EV6 eingesetzt wird, lässt sich der riesengrosse Akku in 15 Minuten mit bis zu 249 Kilometer zusätzlicher Reichweite versorgen. An einem Schnelllader lässt sich der Akku unter optimalen Bedingungen (inkl. Vorkonditionierung, sofern nötig) mit bis zu 210 kW laden. Bei Fastned habe ich mehrmals einen Versuch gestartet, um diese Leistung zu erreichen. Und ja, es ist möglich: Zu Peak-Zeiten wurden sogar bis zu 212 kW an den Schnellladern von Fastned erreicht.

Sieht doch futuristisch aus, aber auch gut? | Bild: vybe

Das Testfazit zum Kia EV9 GT-Line

Bis jetzt habe ich den Kia EV9 erst 2x auf den Strassen in der Schweiz gesehen. Das spricht nicht unbedingt dafür, dass es sich beim Kia EV9 um einen Kassenschlager handelt. Gut, das wird er vermutlich auch nicht sein und dürfte Kia auch nicht erwarten. Aber der EV9 zeigt eindrücklich, was der Konzern aus Südkorea aktuell im Stande ist zu bauen.

Das Aussehen ist speziell und definitiv Geschmacksache. Mir persönlich gefällt er, meiner Frau hingegen überhaupt nicht. Eben, es ist eine Geschmacksache. Im Innenraum wirkt alles aufgeräumt, aber wenig spektakulär. Kia zeigt aber viel Liebe zum Detail. Für Passagiere der zweiten Reihe gibt es etwa ein ausfahrbares Tischchen, für diejenigen in der dritten Reihe Getränkehalter links und rechts. Auch USB-C-Anschlüsse sind an jedem Platz vorhanden.

Nein, ich hätte nicht damit gerechnet, dass sich der Kia EV9 so angenehm und leichtfüssig Fahren lässt. Man hat tatsächlich nie das Gefühl ein so schweres und langes Fahrzeug zu bewegen - nicht einmal auf kurvigen Abschnitten. Der EV9 überzeugt mit einer präzisen und direkten Lenkung. Dank (übermässig) viel Leistung gelingt auch der Sprint auf 100 km/h extrem schnell und zauberte mir damit immer wieder ein Lächeln aufs Gesicht.

Was mich am Kia EV9 effektiv gestört hat und ich definitiv nicht vermissen werde? Das unsägliche Piepsen der Assistenzsysteme! Sie können zwar ausgeschaltet werden, sind aber beim nächsten Start des Fahrzeugs schon wieder aktiv. Ich weiss, es ist nicht die Schuld von Kia. Ich habe mir sagen lassen, dass dies eine Vorgabe der EU sei, dass die Assistenzsysteme bei jedem Start wieder aktiv seien. Trotzdem, da muss doch irgendeine passende Lösung her. Es kann doch nicht sein, dass es auf einer Autofahrt gefühlt alle 2-3 Minuten piepst und vibriert.

Im Vergleich zum VW ID. Buzz, der in einer ähnlichen Kategorie mitmischt, hat der Kia EV9 nur Vorteile. Er ist nicht merklich teurer, hat deutlich mehr Leistung, was in mehr Fahrspass resultiert, und kommt im Endeffekt dank gigantischer Batterie auch weiter. Obendrauf gibt es noch eine hohe Ladeleistung und eine sehr hohe Anhängerlast (die dann aber stark auf die Reichweite drückt).